Über den Wolken – muss die Panik grenzenlos sein

Im Gang die üblichen Gesten, akkurat und lächelnd wie ein Staatsballett-Ensemble vorgetragen; Je länger die Revue mit den Gurten und Sauerstoffmasken dauert, desto mehr schlottern mir die Knie. Die FAZ habe ich aus dem Schoß gelegt, meine Unterarme verdecken die Beine. Meine Frau würde sonst fragen, warum die Zeitung so knistert, ob ich für kleine Düsenjäger müsse. Nein, es ist meine Flugangst, die ich zu verbergen versuche. Der Kapitän lässt seltsam lange Pausen zwischen den verrauschten Sätzen. Sein Deutsch klingt wie Holländisch, sein Englisch wie Schwedisch. Hat er sich ein polnisch gestrecktes russisches Getränk gegönnt? Was ich deutlich verstehe: „Sie brauchen nicht nervös zu sein, ich bin es auch nicht – und fliege die Route zum ersten Mal.“

In meinem Magen schlägt ein Rummelplatz seine Zelte auf. Autoscooter knallen gegen Banden, Leierkästen dudeln wirre Melodien, Dirndl wirbeln übers Parkett. Das festliche Treiben zieht hoch, lässt meine Pupillen über das Zeitschriftennetz flackern – mit dem Ziel: Kotztüte. Kapitale Lettern fordern darauf: „Brechen Sie auf zu neuen Ufern.“ Ich besänftige mich mit der „Eimer-Theorie“, die ich aus der Hoffnung heraus erfand, einprägsame Bilder seien der Schlüssel zu einem sorgenfreien Flug, nicht abstrakte Zahlen: Ein Student hat ganz Frankfurt mit umgekippten Eimern vollgestellt. Unter einem Eimer befinden sich Schwimmflügel. Die Wahrscheinlichkeit, bei einem Spaziergang durch die Stadt eben jenen Eimer aufzuspüren, ist genauso groß wie jene, mit dem Flugzeug abzustürzen.

Geschafft. Wir sind oben – und ich komme runter. Auf dem Jahrmarktgelände kitzelt es noch ein bisschen. Aber das kann ich ertragen – sogar ein wenig genießen, seitdem die gewohnheitsbedingte Schwächung des Begehrens zwischen mir und meiner Sitznachbarin prickelnde physische Erfahrungen obsolet gemacht hat. Schon bald versackt die Erwähnte mit der Stirn auf meiner Schulter. Ein aus sämtlichen Winkeln ihrer Backentaschen zusammengeflossener opulenter Speicheltropfen hängt, lediglich durch ein hauchdünnes Sekretbändchen gehalten, aus ihrem Mund; er plitscht jeden Moment auf mein Flanellhemd. Der Anblick zwingt mich, die Augen zu schließen, der Nebeneffekt: tiefer Schlaf. Bis mich über Italien ein brachiales Rumpeln aufschreckt. Der Pilot kommentiert: „Es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Die Römer haben diese Gegend damals einfach schlecht gepflastert.“

Meine Frau dreht sich, einen wärmenden Fleck hinterlassend, zum Fenster. Eine Weile vergeht. Beim Landeanflug auf Las Palmas dann: rasanter Höhenverlust, heftiges Schaukeln. Die Tragflächen entwickeln eine gefährliche Eigendynamik. Ich schiele zu meiner Frau. Sie grinst nobel. Aus ihren Ohrenstöpseln dringt „In the Air tonight“. Eine weitere musikalische Zumutung bricht von hinten durch meinen Hirnmantel. Eine Gruppe Strohhalm-Jugendlicher bejubelt jeden Durchsacker: „Links, rechts, vor, zurück, das macht Spaß, das bringt Glück!“ Meine Frau bemerkt, wie ich mich, den Bauch haltend, zur Seite winde. „Geht es dir nicht gut, Robert?“ „Dieser widerliche Flugzeug-Fraß. Das Hühnchen war wohl verdorben.“ „Es gab doch gar kein Hühnchen“, erwidert sie. Ich schweige. Sie begreift, legt den Arm um mich – und hält mir das „Neue-Ufern-Tütchen“ ans Kinn.

Endet der Urlaub, beginnt die Quarantäne. Die ich sinnvoll nutze, um meine Belege für die Steuer 2019 zusammenzusuchen. Ich freue mich auf das Gespräch mit Roland Wilm – vielleicht hat er neben juristischen News einige Tipps, wie ich meine Flugangst besser „steuern“ kann.